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Ein Gewaldverbrechen einer Privatperson trug 1923 zur nachhaltigen Verstimmung zwischen der Schweiz und der von ihr damals nicht anerkannten Sowjetunion bei.
Moritz Conradi wuchs als Sohn einer Bündner Unternehmerfamilie in St. Petersburg auf, wo sich seine Familie als Schokoladenfabrikanten seit zwei Generationen eine Existenz aufgebaut hatte. Das Unternehmen beschäftigte 500 Angestellte. Die Geschäfte liefen gut. Während des Ersten Weltkriegs diente Conradi in der russischen Armee und nach der Russischen Revolution bis 1921 bei den Weissen Garden, die im Russischen Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki kämpften. Die Familie Conradi gehörte zu den grossen Verlierern der Revolution: Der Familienbesitz wurde verstaatlicht, Onkel und Tante wurden erschossen und Conradis Vater verstarb an Hunger und Krankheit. Moritz Conradi floh 1921 in die Schweiz. Ende 1922 wurden vom Völkerbund in Lausanne Friedensgespräche initiiert, um den Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei zu befrieden, nachdem die Türkei den Griechisch-Türkischen Krieg (1919 - 1922), der nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches für sich entschieden hatte. Der Türkei gelang es im Rahmen der Verhandlungen im Lausanner , die Bestimmungen des Vertrags von Sèvres, der von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs diktiert worden war, zu ihren Gunsten zu verändern. Der Vertrag von Lausanne wurde am 24. Juli 1923 abgeschlossen und legte die Religionszugehörigkeit als Kriterium für die nationale Zugehörigkeit fest und in der Türkei lebende Minderheiten wurden formal anerkannt. Die Sowjetunion war bei diesen Verhandlungen zwar nicht Vertragspartei, trotzdem nahm eine Sowjetische Delegation an den Verhandlungen teil. Am 10. Mai 1923 erschoss Moritz Conradi im Lausanner Hotel Cécil den Sowjetischen Delegationsteilnehmer Wazlaw Worowski, wohl aus Rache für die Behandlung seiner Familie durch die Bolschwiki. Weil Worowski keine offizielle Akkreditierung besass, wurde der Mordfall von der Justiz des Kantons Waadt als normale Strafsache beurteilt. Conradi wurde vom Genfer Rechtsanwalt Théodore Aubert verteidigt. Aubert nutzte die nach der Russischen Oktoberrevolution von 1917 und dem Schweizer Generalstreik von 1918 herrschende antikommunistische Stimmung in der bürgerlich geprägten Schweiz für eine Täter-Opfer-Umkehr. Schuld am Mord seien die Bolschewiki und das von russischen Emigranten und repatriierten Russlandschweizern geprägte Klima. Conradi verübte den Mord zudem in angetrunkenem Zustand. Die Folge war ein Freispruch, obwohl ihn fünf der neun Geschworenen für schuldig hielten. Für eine Verurteilung wäre aber eine Zweidrittelmehrheit nötig gewesen. Der Schweizerische Bundesrat kritisierte das Urteil, weil es der Schweiz als Sitz des Völkerbundes und als Gastgeberin internationaler Konferenzen schade. Die Sowjetunion war über das Urteil empört und machte den Bundesrat und damit die Schweiz für das Urteil verantwortlich. Als Folge davon verschlechterten sich die Beziehungen der Schweiz zur Sowjetunion weiter. Wazlaw Worowski wurde unter grosser Anteilnahme in Form eines Staatsakts an der Kremlmauer in Moskau bestattet. Im Jahr 1945 entschuldigte sich die Schweiz und nahm 1946 diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion auf. Dafür hatte sich namentlich die Gesellschaft Schweiz-Sowjetunion mit Nachdruck eingesetzt und sah sich deswegen mit einem Skandal um ein Plakat von Hans Erni konfrontiert. Moritz Conradi starb 1947 in Chur. Felix Werner |
Moritz Conradi (1896 - 1947)
Wazlaw Worowski (1871 - 1923)
Völkerbund
Der Völkerbund war ein am 10. Januar 1920 gegründeter Zusammenschluss von 63 Staaten mit Sitz in Genf. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden als wichtigste Aufgaben die Sicherung des Weltfriedens und die schiedsgerichtliche Beilegung internationaler Konflikte zwischen Staaten, Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie die Unterstützung humanitärer und sozialer Initiativen definiert. Dem Völkerbund fehlten allerdings die Mittel zur Durchsetzung seiner Beschlüsse. Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Gründung der Vereinten Nationen (UNO) im Jahr 1946, verlor der Völkerbund seine Bedeutung. Am 18. April 1946 beschlossen die verbliebenen 34 Mitglieder einstimmig, den Völkerbund mit sofortiger Wirkung aufzulösen. Die Mandate und Aufgaben gingen an die Vereinten Nationen, welche seitdem als der Nachfolger des Völkerbundes gelten. |
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